Erich Müglitz –
Ein Werdauer Künstler malt den „Großen Krieg“

Ein Recherchebericht

Vor vielen Jahren machten wir beim Stöbern in einem Antiquariat im sächsischen Werdau eine zufällige Entdeckung. Etwa 100 bejahrte Bildpostkasten, deren Rückseiten ausschließlich von ein und der selben Hand beschrieben waren. Das fiel ins Auge, ließ neugierig werden. Noch im Antiquariat der Buchhandlung lasen wir uns ein: Immer war der Empfänger der Karten eine gewisse "Olly', immer war der Absender "Erich". Datiert waren die dichtbeschriebenem Karten, teils in lateinischen, teils in deutschen Buchstaben, in den Jahren 1916 bis 1918, nicht selten an dicht aufeinanderfolgenden Tagen. 
 Erich Müglitz
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Ihre Aufgabeorte markieren, als wir sie auf einer Karte aufsuchten, die Marschroute, die der deutsche Landser Erich Müglitz in drei Kriegsjahren zurücklegte. Zumeist an der belgisch-französischen Grenze, manchmal heimatnäher, in Lazarett- oder Ausbildungslagern. 
Erst beim näheren Hinsehen offenbarte sich eine weitere Besonderheit des ohnehin schon verblüffenden Fundes: Während ein Teil der Karten aus fotografischen Ansichten von Kriegsschauplätzen bestand war der andere Teil auch auf ihrer Vorderseite vom Schreiber selbst gestaltet, mit Pinsel, Farben, Buntstiften, Bleistift oder Kohle, das dazu geeignete Papier, sogenannte Aquarellkarten, hatte ihm Olly, wie man einigen der Schreiben entnehmen konnte, an die Front geschickt.

Erich Müglitz malte, was er sah und erlebte. Landschaften, unberührt und zerstört, Szenen aus dem Graben, Landser-Leben... Seine Produktivität ist erstaunlich, er musste wohl jede freie Minute genutzt haben, um zu malen – und um zu schreiben. Der Mann E.M. begann uns zu interessieren, wie kam diese fast lückenlose Sammlung, die noch dazu einen künstlerischen Wert besaß, überhaupt ins Antiquariat? Und wer war Erich Müglitz, der den Ersten Weltkrieg auf ganz persönliche Weise sah und reflektierte? Die auf einigen Karten notierte Anschrift der Olly – Olga Rautenstengel – sowie einige inhaltliche Bezüge wiesen sie und Erich als Werdauer aus. Die meisten Karten waren übrigens ohne Anschrift, von oben bis unten dicht beschrieben und offenbar in einem Kuvert versandt worden, meistens zu mehreren, denn sie waren zum Teil nummeriert oder trugen die Kopfzeile „Fortsetzung..."

Längerer Recherchen führten uns zu der Familie F. – entfernte Verwandte des E.M.
Von E.M. wussten die Verwandten nicht allzu viel. Herr F., dessen Groß- und Patenonkel Erich Müglitz gewesen war, kannte ihn als einen humorigen, auch eigenwilligen alten Mann, der gern und viel malte, bei Familienfeiern selbstgemachte Reime vortrug, die Frauen im großen ganzen und Tante Olly im besonderen mochte und im Kern wohl ein wenig verbittert und vom Leben enttäuscht war. Frau F.s Erinnerungen waren noch verschwommener, sie war, ja erst in die Familie gekommen und hatte wohl damals mehr Augen für den jungen F. als für einen alten Onkel. Erinnern kann sie sich noch an Krankenlager und Tod des E.M. und an die bald darauf erfolgende Umsiedlung der Tante zu deren Schwester in ein Pflegeheim südlich Hamburgs. Was an Gegenständen zurückblieb, wurde aufgeteilt, und die F.s kamen in den Besitz von Kartons voller Fotos, ein paar Notizheften und einigen schön gerahmten Bildern, die allesamt EM signiert sind. Es sind Landschaften, verträumte Stadtszenen aus diesem Teil Sachsens.

Inzwischen recherchierten wir, dass das Kreismuseum vor längerer Zeit eine kleine Werkschau des malenden ehemaligen Mitbürgers herausgebracht hatte. Die dafür verantwortliche Mitarbeiterin bedauerte, uns nichts zur Person Erich Müglitz sagen zu können. Es stellt sich heraus, dass eine Reihe der Müglitzschen Bilder schon zu dessen Lebzeiten ins Museum gekommen sein muss, war doch E.M. eine Zeitlang mit dem damaligen Museumsdirektor aus einem gemeinsamen Interesse an Heimatforschung heraus verbunden. Dieser Museumsdirektor verließ später die Stadt, so rissen diese Fäden erst einmal ab. Vor ihrer Umsiedlung in das Pflegeheim in Soltau verkaufte Olga Müglitz weitere Bilder, die sie ja nicht mitnehmen konnte, an das Museum.

Auf den in Brauntönen gehaltenen Kartonfotos, die uns von Erich Müglitz aus dem zweiten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts erhalten sind, ist ein schmaler junger Mann zu sehen: kurzgeschnittenes Haar, randlose Brille, ein dünnes Bärtchen an der Oberlippe. Zumeist nimmt er eine Pose ein, die seine Ambitionen wohl verdeutlichen soll. Es drängt den am 22.Juni 1895 in einer Werdauer Handwerkerfamilie Geborenen, von dem der Vater die Nachfolge erwartet, zur Kunst. Mit dem Abschluss der Volksschule lässt er sich zu Zeichenkursen verlocken, wie sie per Nachnahme angeboten wurden, eignet sich verschiedene Maltechniken an, versucht sich an Skizzen, Studien, in Öl und Pastell. Die Werdauer Papierhändler, die nebenbei ein kleines Sortiment an Künstlerbedarf führen, kennen ihn bald als einen eifrigen Abnehmer von Farben, Karton und jenen Aquarellpostkarten, die ganz persönliche Kartengrüße erlauben. Noch 1912/13, schon im Dekorationsmalergeschäft des Vaters, schreibt sich Erich Müglitz in einen Holz-Marmor-Kurs ein und lässt sich im vielversprechenden Künstlerkittel mit seinen Kurskameraden fotografieren. Wer von den zeitgenössischen Malern ihn inspirierte, wessen Strich er liebte und vielleicht nachzuahmen versuchte - das alles wissen wir nicht von E.M. Auch was er vor dem Ersten Weltkrieg malte, ist augenscheinlich verlorengegangen.

Warum studierte E.M. nicht? Hat er jemals Anlauf an einer Kunstakademie genommen? War es die Familie, die es ihm versagte, oder deren finanzielle Lage? Ausreichende Antwort lässt sich darauf nicht mehr finden, wir können nur Vermutungen anstellen. Es gibt auch weder Schriftstücke noch Andeutungen in seinen Zeilen, die auf Konflikte dieser Art hindeuten. Vielleicht war E.M. gern ein Freizeitmaler, vielleicht erkannte er seine Grenzen, vielleicht...

War die Malerei die eine Muse, so war Olga Rautenstengel – etwa seit 1912 – die andere. Auch sie eine Werdauerin, 1894 geboren, aus einem kleinen Wäschegeschäft stammend. Ein „süßes Kind“, wie man sie seinerzeit möglicherweise nannte, und was ihr Abbild nicht leugnet. Ein süßes Kind mit naiven Fragen, die wir im Wortlaut nicht erfahren, wohl aber doch aus Erichs Antworten in seiner Post.
Von ihr sind nur wenige Zeilen aus dem Briefwechsel erhalten, zu wenige, um sich ein Bild von ihr zu machen.

Was wir wissen: Im zweiten Jahr des Krieges zog E.M. die Uniform an. Er fuhr zur Ausbildung und an die Front mit Patriotismus für den Hausgebrauch im Gepäck und dem verständlichen Wunsch einer baldigen Rückkehr. Im Gepäck auch die Malutensilien und Lust auf Sehen. Zwischen 1916 und 1918 schieb er mindestens 350 Postkarten an Olly. Misstöne gab es darin nur wenige. Ihre gegenseitige Zuneigung überstand die Trennung, so wie E.M. den Krieg überlebte. Im Juni 1919 wurden beide ein Ehepaar, das 1969, als geachtete Geschäftsleute ihrer Heimatstadt, die Goldene Hochzeit feiern konnte.

Die Ehe blieb kinderlos, was besonders Erich veranlasste, sich zu seinen Neffen, Nichten und Patenkindern hingezogen zu fühlen. 1976 starb Erich Müglitz an Prostatakrebs. Olly überlebte ihn, nach ihrer Übersiedlung, um mehr als acht Jahre. Der Tod hat sie auch räumlich getrennt. Er wurde in Werdau bestattet, sie in Soltau.
Was blieb, sind viele tausend Zeilen.